Interview mit Uli Decker (ANIMA) zu Produktions- u. Arbeitsbedingungen beim Film
„Künstlerische Dokumentarfilme erfordern bis zu einem gewissen Grad auch Ergebnisoffenheit“
Ein Gespräch mit der Regisseurin des Films ANIMA – DIE KLEIDER MEINES VATERS, Uli Decker, zu den Produktions- und Arbeitsbedingungen für Dokumentarfilme.
Der Bayerische Filmpreis im Bereich Dokumentarfilm wurde Mitte Juni im Prinzregententheater München an Uli Decker für ihren Film ANIMA – DIE KLEIDER MEINES VATERS verliehen – herzlichen Glückwunsch! Der Film lief 2022 auf dem 37. DOK.fest München in der Reihe Münchner Premieren.
Unser Festivalleiter Daniel Sponsel (aktiv im Vorstand der AG DOK) sprach mit der Murnauer Filmemacherin, die in Berlin lebt, nach der Preisverleihung über die prekären Produktions- und Arbeitsbedingungen für Dokumentarfilmschaffende in Deutschland.
Daniel Sponsel (D.S.): Noch einmal herzlichen Glückwunsch zum Bayerischen Filmpreis! Du hast zum Ende Deiner Danksagung auf der Bühne die Gelegenheit genutzt, zwei wesentliche Punkte anzusprechen: Einmal Deine Verwunderung darüber, dass Dein sehr persönlicher Film über wesentliche Fragen der Geschlechteridentität in Bayern so wertgeschätzt wird. Zum Ende hast Du die schwierigen Produktions- und Arbeitsbedingungen für Dokumentarfilme benannt und dabei gefordert, als Filmemacherin eine reguläre Entlohnung für einen Film zu erhalten.
Uli Decker (U.D.): Vielen Dank! Ja, die positive Resonanz und das große Interesse an ANIMA ist wirklich beglückend. Dass so viele unterschiedliche Menschen sich von dem Film angesprochen fühlen, zeigt mir, dass mir und meinem Team da etwas wirklich Besonderes gelungen ist.
Neben seinen im weitesten Sinne queeren Themen, ist ANIMA vor allem ein Film über Familiendynamik, gesellschaftliche Tabus und die Wirkung von Geheimnissen auf unsere menschlichen Verbindungen. Mir war wichtig, keinen Nischenfilm zu machen, sondern einen Film, der potentiell ein breites Publikum ansprechen kann, auch Menschen, die sonst wenig mit Dokumentarfilm in Berührung kommen. Dass es dafür wichtig war, eine auch formal bestechende, unterhaltsame Form zu finden und einen Tonfall, der inmitten aller Tragik auch Leichtigkeit und Humor zulässt, war die große Herausforderung im Entstehungsprozess. Die lange Entstehungszeit des Films (6 Jahre) rührt zum Einen daher, dass es für mich eine große Kraftanstrengung bedeutete, Tabus zu durchbrechen, die mich seit meiner Kindheit und Jugend begleiteten und liegt zum Anderen an der sehr diversen Form, die Archivmaterial, Animation, dokumentarisches und fiktionales Material mit einbezieht. Der Tonfall des Films erforderte zudem einen intensiven, präzisen Arbeits-Prozess in enger Zusammenarbeit mit meinem Team. Verzögerungen durch einen Unfall im Produktionsprozess und Corona taten ihr Übriges.
Was mich im gesamten Entstehungsprozess sehr belastete war, dass meine Arbeit an dem Projekt weit über die vertraglich vereinbarte Tätigkeit als Autorin und Regisseurin hinausging und ich fehlende Budgetposten an allen Ecken und Enden durch meine eigene, unbezahlte Arbeit ausgleichen musste, von zusätzlicher Kameraarbeit, Archivsicherung, Drehvorbereitung bis zur professionellen Bearbeitung des Bildmaterials – offenbar selbstverständlich im Dokumentarfilm und sicherlich kein Einzelfall. Gleichzeitig wusste ich kaum, wie ich in der intensiven Produktionszeit von der knappen Regie- und Autorengage meinen Lebensunterhalt bestreiten sollte.
D.S.: Man könnte sagen, der Dokumentarfilm steht in der Ökonomie der Kultur am Ende der Nahrungskette. Warum ist das so, wie erlebst Du das?
U.D.: Mein Eindruck ist, dass Dokumentarfilm in Deutschland nicht als vollwertiger Film gesehen wird – weder von weiten Teilen eines potentiellen Publikums, noch von Förderanstalten, Fernsehsendern oder Produktionsfirmen. Ausdruck davon ist z. B. auch, dass der Dokumentarfilm bei den Berichten über die Vergabe des Bayerischen Filmpreises in den gängigen Medien unerwähnt blieb, während über die Preise für Spielfilm sowie die entsprechenden Gewerke ausführlich berichtet wurde.
Diese allgemeine Ignoranz was den Dokumentarfilm betrifft, liegt vermutlich unter anderem daran, dass das Fernsehprogramm in den letzten 30 Jahren hinsichtlich der Vielfalt filmischer Formen extrem reduziert wurde. Man traut dem Publikum kein Interesse am Dokumentarfilm zu. Im Fernsehprogramm legt man Dokumentarfilme auf den Slot nach Mitternacht, im Kino auf die Nachmittagsschiene – zu Zeiten also, die ohnehin kaum Zuschauer*innen anziehen.
So wird dem breiteren Publikum nur noch selten die Gelegenheit gegeben, künstlerisch anspruchsvolle Filmen zu sehen. Die Vielfalt wird mit dem Argument der Quote – das zumindest in den öffentlich-rechtlichen Sendern keine so große Rolle spielen dürfte – eingeebnet. Anspruchsvollere Formate würden keine Einschaltquoten generieren, so das Argument.
Nun könnte man sagen: Heute spielt das Fernsehen ja ohnehin keine große Rolle mehr. Aber auch Netflix und andere gängige Streamingdienste produzieren zum großen Teil stark formatierte dokumentarische Formen. Von der Vielfalt der Ausdruckmittel, die im Film und insbesondere im Dokumentarfilm möglich sind, ist auch dort nur vereinzelt etwas zu sehen. Stark formatierte Filme sind schließlich schneller und kostengünstiger zu produzieren und führen zu vorhersehbaren Ergebnissen.
Künstlerische Dokumentarfilme erfordern bis zu einem gewissen Grad auch Ergebnisoffenheit. Und das birgt Risiken und ist weniger kontrollierbar. Ein Film wie z. B. ANIMA braucht Zeit, um zu reifen und seine Form zu finden. Das ist aufwendig für alle Beteiligten – und vor allem für Regie und Produktion. Der Mehrwert sind vielschichtige Werke, die Menschen tief berühren können, mit Originalität überraschen und zu komplexem Nachdenken über unsere Gesellschaft und die Conditio Humana anregen.
D.S.: An dem Thema der ökonomischen Voraussetzungen zur Herstellung von Dokumentarfilmen arbeiten wir alle schon seit langem und immer wieder. Dank der hartnäckigen Verhandlungen des BVR (Bundesverband Regie) und der AG DOK gibt es seit 2021 eine Vergütungsregelung für Buch- und Regie-Honorare mit der ARD. Nun steht die Novellierung des Filmförderungsgesetzes an. Was könnte in dem Gesetz verankert werden, um die Produktionsbedingungen für Dokumentarfilmemacher*innen gerecht zu werden?
U.D.: Der Arbeitsaufwand der Regie sollte sich auch in der Gage widerspiegeln. Dazu gehört, dass alle zusätzlichen Arbeiten, die nicht im Bereich des Buch- und Regievertrags geregelt sind und von der Regie übernommen werden (müssen), zusätzlich nach der üblichen Gagenordnung vergütet werden. Wird Archivmaterial aus dem Besitz der Regisseur*in eingebracht, sollten Lizenzgebühren dafür bezahlt werden.
Schnittzeiten sollten von vorneherein realistisch für das jeweilige Projekt kalkuliert werden – auch die Präsenz der Regie im Schnitt, die oft unabdingbar ist. Da nach Fertigstellung des Films die Regiearbeit noch nicht zu Ende ist, sondern die Präsenz der Regisseur*innen bei Filmscreenings, Premieren, Festivals für die Verbreitung des Films eine große Rolle spielt, sollte auch in der Distributionsförderung ein Posten für die Regie vorgesehen sein, der den Ausfall von Arbeitstagen durch angemessene Gagen kompensiert.
Fundamental für eine realistische, zum spezifischen Entstehungsprozess von Dokumentarfilm passende Finanzierung halte ich eine Staffelung der Förderungen. Recherche und Stoffentwicklung, Buch, Produktion und Postproduktion könnten so nacheinander stufenweise beantragt werden. Dabei sollte die Möglichkeit offen bleiben, das Gesamtbudget im Verlauf zu erhöhen, sollte sich herausstellen, dass Posten auf einer früheren Stufe zu niedrig kalkuliert wurden – was oft der Fall ist, meist jedoch nach Zusage der Gesamtförderung bisher nicht mehr zu korrigieren ist.
Paradoxerer Weise ist das bei extrem kostspieligen, durch Steuermittel geförderten Bau-Projekten wie der Elbphilharmonie oder dem Berliner Flughafen, gängige Praxis. Dort wird sogar akzeptiert, dass sich die Baukosten von der ersten Planung bis zur Fertigstellung um ein Vielfaches erhöhen. Im Dokumentarfilm gibt es hingegen keine Möglichkeit, auch nur einen Cent mehr zu beantragen, sobald das Budget geschlossen ist.
Eine Staffelung der Förderungen hätte einen weiteren großen Vorteil: Nicht jede Ausgangsidee führt zu einem Dokumentarfilm, der zu veröffentlichen ist. Manchmal stellt sich erst später heraus, dass ein Plan nicht aufgeht, Protagonist*innen fallen aus oder stehen plötzlich doch nicht zur Verfügung, die Wirklichkeit hat einen anderen Plan und es macht wenig Sinn, ein Projekt zu forcieren. Bei einer stufenweisen Förderung müssten Projekte nicht weiter durchgezogen werden, nur weil die Fördersumme bereits bewilligt wurde.
D.S.: Im Umfeld der Berlinale wird jährlich der ‘Fair Film Award‘ für fiktionale Filme verliehen. Crew United hat im Rahmen des DOK.fest München diesen Preis auch 2018 und 2019 für nonfiktionale Filme verliehen. Ist das ein Weg, das Thema sichtbar zu machen?
U.D.: Es ist sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Als Regisseur*innen sind wir mit unseren oft sehr persönlichen Themen, an denen wir oft jahrelang mit großem persönlichen Einsatz arbeiten, sehr verletzlich und von den Produktionsfirmen abhängig.
Ein 'Fair Film Award' gäbe Regisseur*innen wichtige Anhaltspunkte bei der Suche nach der passenden Firma, bei der wir mit unserem Projekt auf unterschiedlichen Ebenen gut aufgehoben sind. Dabei ginge es nicht nur um fachliche Qualitäten des jeweiligen Unternehmens, sondern auch um den menschlichen Umgang mit allen Beteiligten: Wer behandelt uns fair und geht respektvoll mit unserer Arbeit um? Werden Filmemacher*innen in die Gestaltung des Budgets einbezogen? Gibt es eine transparente, faire Kommunikation mit der Regie? Verlaufen Vertrags- und Gagenverhandlungen respektvoll oder wird versucht, Unwissenheit zugunsten der Produktion auszunutzen? Setzt sich eine Firma auch nach Fertigstellung für die Verbreitung des Films ein oder überlässt sie die Arbeit der Regie?
Diese und weitere Fragen sind wichtige Punkte bei der Entscheidung für eine Zusammenarbeit. Sich da unter Filmemacher*innen auszutauschen ist extrem wichtig, denn die Wahl der Produktionsfirma hat großen Einfluss auf den Arbeitsprozess.
D.S.: Danke für das Gespräch und die konkreten Anregungen und Vorschläge. Wir nehmen von Seiten der AG DOK aktiv auf die Ausgestaltung des Filmförderungsgesetzes Einfluss und können optimistisch sein, dass einige auch von Dir benannten Punkte berücksichtigt werden.